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“paradies 0.9”

laudatio von dr. rainer grimm

meine sehr verehrten damen und herren,

ich habe das vergnügen, hier heute mit ihnen eine sehr spannende ausstellung zu eröffnen. der titel der ausstellung mag beim ersten – leisen – lesen vielleicht etwas merkwürdig aussehen – liest man ihn aber einmal laut, dann erschließt sich das sofort, ‘paradies 0.9’, das ist das paradies im jahr 2009, also heute. wie sieht dieses paradies hier aus?

bevor ich inhaltlich darauf eingehe, sollten wir noch den initiatoren stefan rautenkranz vom kunstverein burgwedel / isernhagen, christine behler mit dem kirchenvorstand von st. nikolai, michael stier von der regions- und stadtakademie, der region hannover in gestalt von viktoria krüger und natürlich dem künstler franz betz danken. nur durch die intensive kooperation zwischen allen beteiligten ist diese aufwändige installation überhaupt möglich geworden.

paradies – das ist uns ein vertrauter begriff, der aber offensichtlich so unscharf ist, dass sehr viel und sehr viel unterschiedliches darunter verstanden werden kann. gibt man den begriff bei google ein, dann erhält man, wie es da so schön heißt, ‘ungefähr’ 6 480 000 sogenannte ergebnisse. da gibt es die ‘paradies betten’, es gibt einen ‘swinger club paradies’, einen ‘asia imbiss paradies’, ‘sven’s spielzeug paradies’, ein ‘pizza paradies’, eine ‘paradies gmbh’ usw. usw.
der begriff ‘paradies’ wird hier in der werbung sicher wegen seines positiven klangs verwendet – in betten, die ‘paradies’ heißen, schläft man sicher gut, und beim ‘asia imbiss paradies’ muss es einfach gute sachen zu essen geben.

dann gibt es aber noch eine andere verwendung des begriffs. das sind die sogenannten ‘unberührten paradiese’. so bezeichnet man ja gern landschaften, in denen die menschen noch scheinbar im einklang mit der natur leben, in denen es noch nicht so viele touristen gibt usw. auf arte lief in der letzten woche eine serie: ‘die neuen paradiese’ – darin hieß es am donnerstagabend unter anderem: ‘eine unberührte paradiesische landschaft erwartet den touristen.’ beim hören eines solchen satzes denke ich immer – wie schrecklich, dann sind diese ‘unberührten paradiesischen landschaften’ es sicher das letzte mal gewesen. aber offensichtlich ist in uns allen die sehnsucht nach einem solchen ort vorhanden.
ein wenig wird diese auffassung des paradieses als einem noch unberührtem ort in der sogenannten ‘garten eden kirche’ – der installation in der christuskirche – verwirklicht. dort sind pflanzen und bäume versammelt, die vier urflüsse werden durch nebelbecken symbolisiert, es gibt den baum des lebens und die quelle des lebens.

hier sehen wir nun eine ganz andere auffassung des paradieses – ist es in der christuskirche gewissermaßen der – wie ich finde – gelungene versuch einer gegenständlichen umsetzung, so werden hier in st nikolai andere akzente gesetzt. um diese installation angemessen zu würdigen, möchte ich noch kurz auf die eigentliche bedeutung des paradieses eingehen.

das wort kommt ursprünglich aus dem persischen – und es bedeutete nur ‘umgrenzter bereich’. es wurde dann in der persischen palastarchitektur für einen ummauerten park verwendet.
in der bibel ist ursprünglich nur vom ‘garten eden’ die rede – erst in der griechischen übersetzung wurde daraus das ‘paradies’. für das verständnis dieser installation ist nun bedeutsam, dass der ‘garten eden’, das ‘paradies’ in jedem fall nach außen begrenzt ist – das wird schon dadurch ganz deutlich, dass adam und eva nach dem sündenfall aus dem garten gejagt werden.

ich hatte vorhin die rhetorische frage gestellt, wie das ‘paradies 0.9’, das ‘paradies heute’ in dieser kirche von franz betz verwirklicht worden ist. nun, er lässt mit seinem von ihm erfundenem ‘skulpturen alphabet’ das paradies zunächst als schriftzug entstehen. draußen auf dem friedhof befinden sich die ersten drei buchstaben – ‘p’ ‘a’ und ‘r’ – hier in der kirche folgen im uhrzeigersinn die übrigen. hinten unter der empore ist das zweite ‘a’, im chor folgt dort das ‘d’, hier dann das ‘i’, in den bänken das ‘e’ und oben auf der empore schließlich das ‘s’.

als ich zum ersten mal das ‘skulpturen alphabet’ von franz betz sah, versuchte ich natürlich, gemeinsamkeiten zwischen seinen buchstaben und den uns geläufigen lateinischen buchstaben zu finden – wenn sie’s auch versucht haben sollten – es gibt keine. franz betz hat diese schrift, die ‘lines’, wie er sie nennt, völlig frei erfunden. aber sie ist dennoch sehr konsequent durchgehalten. das ‘a’ draußen und hier drinnen ist in seiner form identisch, sodass man seine buchstaben durchaus als eine geheimschrift verwenden könnte.
die einzelnen buchstaben hat er aus leuchtstoffröhren gebogen. das licht der leuchtstoffröhren ist ja im allgemeinen – etwa im unterschied zu normalen glühlampen – relativ kalt. und hier hat er bewusst ein kaltes weiß als farbe gewählt. durch die frei und locker wirkenden biegungen und drehungen gelingt es ihm aber nun, die röhren gewissermaßen lebendig wirken zu lassen. unterstützt wird das hier noch dadurch, dass er zu dem strahlenden, kalten weiß an einzelnen stellen noch ein wenig rot gesetzt hat.
übrigens hat er auch die warmen lichter in den radleuchtern hier in der mitte und in den wandleuchtern austauschen lassen – dazu sind rote filter über einige lichtmittel gesteckt worden, sie stellen so beziehungen zu seinen buchstaben her.

typisch für alle ‘lines’ von franz betz ist, dass sie von unten nach oben zu wachsen scheinen. wenn man sie mit einer pflanze vergleicht, so gibt es unten so etwas wie eine art wurzel – man kann das gut hier bei dem ‘i’ sehen. daraus erhebt sich so etwas wie ein stängel, oben folgt dann eine verschlungene blüte oder eine art ‘kopf’.

diese analogie zu pflanzen ist hier im paradies 0.9 sicher nicht zufällig. die einzelnen buchstaben sind pflanzenähnlich, dadurch wird ein direkter bezug zum paradies hergestellt. nun kommt noch eine zweite parallele dazu – die leuchtenden ‘buchstabenpflanzen’ sind jeweils in eine art käfig eingesperrt. so wie das paradies der bibel eine grenze hatte – so gibt es auch hier grenzen, die zwar lichtdurchlässig sind, aber die nicht überwunden werden können.
zu diesen beiden analogien – dem pflanzenähnlichen der ‘lines’ und der betonung der grenze kommt nun noch zwei ganz wesentliche beziehungen hinzu – die bedeutung des wortes und des lichts im rahmen der schöpfung. schon am anfang der genesis heißt es:

und gott sprach: “es werde licht!“

auch alle weiteren schöpfungstage beginnen mit der formel: ‘und gott sprach.......’,
daran sieht man, welch große bedeutung die autoren der bibel dem wort, der sprache zugemessen haben.

im neuen testament ist es dann johannes, der sein evangelium folgendermaßen beginnt:

im anfang war das wort, und das wort war bei gott, und gott war das wort. (…) in ihm war das leben, und das leben war das licht der menschen. und das licht scheint in der finsternis, und die finsternis hat’s nicht ergriffen.

in beiden textstellen werden mit dem ‘wort’ und dem ‘licht’ gleich zwei für diese installation wesentliche aussagen getroffen. franz betz hat schließlich leuchtende buchstaben erfunden, die hier für das ‘paradies 0.9’ stehen.
die schrift und damit das wort hat eine überragende bedeutung in den sogenannten drei ‘buchreligionen’, der jüdischen, der christlichen und der islamischen. gott erschafft danach alles durch das wort – und wir menschen unterscheiden uns von allem anderen in der schöpfung vor allem dadurch, dass wir die fähigkeit haben, über uns selbst, unsere stellung in der welt und über den sinn unseres lebens nachzudenken – und das tun wir mit und in der sprache.

die bedeutung des lichts lässt sich natürlich überhaupt nicht hoch genug einschätzen. ohne licht, ohne energie gäbe es nichts.... wenn man es naturwissenschaftlich betrachtet, ist das universum vermutlich vor etwa 15 milliarden jahren aus reiner energie entstanden – und für uns wird energie im licht erkennbar.
so galt in allen religionen das licht schon immer als göttlich – denken sie etwa an die bedeutung des lichts in den christlichen kirchen.... die farbigen fenster beispielsweise, durch die das irdische, alltägliche licht in göttliches verwandelt wird.

letztlich spielt die beherrschung des lichts in gestalt des feuers für die menschwerdung auch eine ganz wesentliche rolle. aber das ist auf der anderen seite sicher auch der grund dafür, dass wir aus dem paradies vertrieben worden sind. dem mythos nach hat uns luzifer das licht gebracht – luzifer heißt wörtlich der ‘lichtbringer’ – und so lässt ihn milton in seinem versepos ‘paradise lost’ denn auch zur schlange werden, die eva dazu verführt, von der frucht des baums der erkenntnis zu essen.

wir sind also aus dem paradies vertrieben, weil wir gelernt haben, das feuer, das licht zu beherrschen. und wir sollten uns vielleicht nicht unbedingt dahin zurückwünschen – das hätte doch konsequenzen, die für uns nicht durchweg angenehm wären.

franz betz hat hier nun das paradies in seinen ‘lines’ gewissermaßen buchstäblich gestalt werden lassen. in den einzelnen ‘lines’ verweist er durch die form auf das pflanzliche, mit dem licht wird die energetische dimension aufgezeigt und durch das wort die stellung des menschen. aber er sperrt das alles auch ein, er grenzt es von der umgebung ab. ist das paradies nun in den käfigen, die die einzelnen buchstaben beherbergen?
oder ist das paradies nicht vielmehr außerhalb – bei uns ..... weil die reine energie, wenn sie nicht in den käfigen gezähmt wäre, uns alle zerstören würde?

leben wir hier in europa im paradies – und grenzen wir uns nicht von der übrigen welt ab? oder ist es so, dass die ‘unberührten paradiese’ unsere sehnsucht darstellen?
hat uns die beherrschung des feuers letztlich so übermütig gemacht, dass wir die ganze welt zerstören?

franz betz stellt mit seiner installation – zu der ja alles in und außerhalb der kirche gehört – viele fragen, die zu ruhigem nachdenken und intensiven gesprächen einladen. ich wünsche ihnen viele fruchtbare gedanken dazu.

einführung von dr. rainer grimm


ausstellungseröffnung ‘paradies 0.9’ in der st nikolai kirche kirchhorst am 15.8.2009

dr. rainer grimm
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